Was ist die Unternehmerfamilie und wer zählt dazu?
Unternehmerfamilien tun sich häufig schwer mit der Antwort auf diese Frage. Dies ist nicht verwunderlich, denn die vorgefundene eigene Realität passt häufig nicht zu dem gesellschaftlich anerkannten und historisch gewachsenen Vorverständnis von dem, was eine Familie ist, war bzw. zu sein hat.
Das Bild von der Familie hat sich im Laufe der Jahrhunderte in unserem Kulturkreis immer wieder verändert, wenngleich wir alle diese Vorstellungen immer noch kennen und sich unser Familienbild daraus zusammensetzt:
Mittelalter bis Neuzeit: Hier galt über weite Teile, wenn auch nicht ausschließlich, die Vorstellung(1) von der Großfamilie. Sowohl in Handwerkerfamilien der Zünfte als auch in großbürgerlichen Kaufmannsfamilien und in bäuerlichen Grundbesitzerfamilien bis hin zum Adel lebten in der Regel neben Eltern und Kindern weitere Verwandte wie (nicht zwingend unverheiratete) Tanten und Onkel, Großeltern, aber oft auch angenommene (Pflege-) Kinder, Lehrburschen und Gesellen (Handwerk), Dienstboten (Bürgertum) und Knechte und Mägde (Landwirtschaft). Sie alle zählten mehr oder weniger zur Familie, denn diese hatte – in der Regel in Person des Patriarchen – im feudalistischen Sinne allen genannten Mitgliedern gegenüber nicht nur die fast uneingeschränkte Weisungsbefugnis, sondern auch eine umfassende und in der Regel lebenslange Fürsorgepflicht (z. B. bei Krankheit, im Alter).
19./20. Jahrhundert: Im Zuge der Industrialisierung haben sich die zunftgebundenen und feudalen Strukturen aufgelöst. Gleichzeitig (und damit verbunden) etablierten sich andere Versorgungsstrukturen (Renten- und Krankenkassen). Entsprechend veränderte sich das familiäre Zusammenleben. Die Lebensform in Großfamilien wurde häufig von der in Kernfamilien verdrängt. Jetzt verstand man in der Regel unter einer Familie ein verheiratetes Ehepaar mit seinen unmündigen Kindern. Diese lebten in einem Haushalt zusammen, fern der Großeltern und der anderen Kernfamilien der erwachsenen Geschwister und fern der Mitarbeiter- und Kollegenfamilien. Die Familie bestand darüber hinaus nicht mehr lebenslang, sondern währte nur während der Zeit des Großwerdens der Kinder. Waren diese erwachsen, verließen sie ihre Ursprungsfamilie und gründeten eine neue eigene Kernfamilie.
Moderne: Im Zuge einer immer weiteren Individualisierung und weiterer Veränderungen bezüglich der Versorgung (angemessene Versorgung im Scheidungsfall, gute Ausbildung auch der Frauen und damit eigene und unabhängige Versorgungsmöglichkeiten) bildeten sich viele alternative Familien- und Lebensformen heraus, die oft nicht einmal mehr als Familie bezeichnet werden: Singlehaushalte, temporäre Lebenspartnerschaften mit oder ohne Kinder, Wohngemeinschaften, Seniorenresidenzen, Alleinerziehende mit Kind, Patchworkfamilien mit wechselnden Mitgliedern, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Regenbogenfamilien, Wochenend-Ehen. Die heutige Vorstellung von der Familie basiert meist weniger auf einer materiellen Grundlage als vielmehr auf einer emotionalen. Sie ist nicht unbedingt auf Dauer angelegt und auch (Bluts-) Verwandtschaft und Ehe stellen keine maßgeblichen Kriterien dar. Es müssen offensichtlich lediglich mindestens drei Personen aus mindestens zwei Generationen gemeinschaftlich zusammenleben.
Das einzige verbindende Element all dieser Vorstellungen von der Idee Familie über die Jahrhunderte hinweg ist offensichtlich nur das (zumindest temporäre) gemeinschaftliche Leben in einem Haushalt. Außerdem scheint über alle Jahrhunderte hinweg und alle Familienbilder betreffend neben einer gewissen materiellen Grundlage auch eine zumindest irgendwie geartete emotionale Nähe Voraussetzung für ein stabiles Familienzugehörigkeitsgefühl zu sein.
Anwendung auf (ältere) Unternehmerfamilien)
Auf die meisten Unternehmerfamilien trifft keines der beschriebenen historisch gewachsenen und in unserer Gesellschaft vorhandenen Familienbilder zu. Denn selbst wenn von Großfamilienstruktur gesprochen wird, leben in der Regel die Mitglieder weder gemeinsam in einem Haushalt, noch zählen die Mitarbeiter*innen (entsprechend früher dem Gesinde) dazu. Kernfamilienstrukturen gibt es nur, wenn Unternehmerfamilien durch eine entsprechende Erbfolgeregelung die Reinszenierung der Gründerfamilie betreiben und die heutigen Individualisierungstendenzen (Scheidung, Patchwork, Lebensabschnittspartnerschaft) nicht gelebt werden. Auch die Strukturen alternativer Familienformen, die nicht auf Dauer angelegt sind, widerstreben den Unternehmerfamilien, da sie als Basis ihres Familienunternehmens von der Idee der Dauerhaftigkeit und von Langfristdenken geprägt sind. Selbst der kleinste gemeinsame Nenner aller oben beschriebenen Familienbilder, nämlich das zumindest temporäre gemeinsame Leben in einem Haushalt, gilt bei (älteren) Unternehmerfamilien offensichtlich nicht, denn letztlich sind die meisten Unternehmerfamilien ein Agglomerat von einigen mehr oder weniger locker verbundenen und verstreut lebenden Kernfamilien und alternativen Familien, die ausschließlich durch den gemeinsamen Besitz am Unternehmen Verbindung haben.
Da Besitz bzw. materielle Verbundenheit aber offensichtlich wie oben beschrieben oft nicht (mehr) als genügend strukturbildend und nicht genügend zusammenhaltend empfunden wird, werden weitere Bindungsfaktoren bemüht. So gelten häufig nur Blutsverwandte als Mitglieder der Unternehmerfamilie. Dies ist dann meist mit der Vorstellung verbunden, dass ausschließlich leibliche Nachkommen Erb*innen der Unternehmensanteile werden dürfen. Familienmitgliedschaft wird hier also mit der Zugehörigkeit zum Gesellschafterkreis gleichsetzt.
Andere Unternehmerfamilien etablieren als Bindungsfaktor → Stämme, um einerseits die Unübersichtlichkeit der fast unverbundenen Kleinfamilien zu strukturieren und andererseits den Mitgliedern zusätzliche Identifikationsangebote zu bieten.
Das wichtigstes Bindungselement bzw. beinahe Bedingung, um sich als Familie begreifen zu können, scheinen für das letztlich nämlich mehr oder weniger künstliche Konstrukt einer (älteren) Unternehmerfamilie aber die gemeinsamen → Familienmaximen (also eine Art Wesensverwandtschaft und damit emotionale Nähe) zu sein.
Nützliche Hinweise
Um sich als zusammengehörige Unternehmerfamilien zu verstehen, ist eine häufige und offene → Kommunikation unter allen Familienmitgliedern unabdingbar. Gelegenheiten dazu müssen meist bewusst gesucht und geschaffen werden (z. B. durch → Familientage), da man nicht davon ausgehen kann, dass sich die verstreuten Kleinfamilien automatisch treffen und austauschen. Relevant ist dabei für alle Mitglieder das Erlebnis von Nähe, von Empathie und der (bewussten wie unbewussten) Rückversicherung der gemeinsamen → Werte und der gemeinsamen Ziele (→ Familienmaximen) .Oft wird die vorgefundene Komplexität durch Ausschluss von bestimmten Familienmitgliedern (z. B. Angeheiratete, Lebenspartner*innen) reduziert. Unternehmerfamilien mit einem stabilen Familienzugehörigkeitsgefühl beziehen allerdings häufig gerade auch die zunächst als peripher empfundenen Mitglieder ein, um sie nicht als störende Elemente zu etablieren, sondern für den Familienverband konstitutiv zu nutzen. Dabei wird freilich zwischen Familienstatus und Gesellschafterstatus klar unterschieden.
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(1) Bei den Ausführungen geht es um die jeweils vorherrschende und gesellschaftlich anerkannte Form der Vorstellung von Familie. Die (historische) Wirklichkeit war und ist hingegen wesentlich vielfältiger und kannte bzw. kennt immer auch andere Formen.
Weiterführende Literatur:
Gestrich, Andreas/ Krause, Jens /Mitterauer, Michael, Geschichte der Familie, Verlag: Alfred Kröner, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-520376015
Stamm, Isabell, Unternehmerfamilien. Über den Einfluss des Unternehmens auf Lebenslauf, Generationenbeziehungen und soziale Identität, Verlag: Budrich, Leverkusen 2013, ISBN 978-3-847400509
Augustin, George/ Kirchdörfer, Rainer (Hrsg.), Familie. Auslaufmodell oder Garant unserer Zukunft, Verlag: Herder, Freiburg i.B. 2014, ISBN 978-3-451-33560-0