Dieses Buch ist ein opus summum.
Das mag zunächst etwas befremdlich klingen. Denn erstens ist es nicht so umfangreich, wie man es von einem solchen Werk erwarten könnte. Zweitens erschien es in einem nicht so bekannten Verlag. Drittens wird es quasi als Buch zum Film (DVD: Bevor das Kind in den Brunnen fällt) verstanden. Und viertens kommt es mit einem eher spielerischen Titel und einem ebensolchen Umschlag daher. Damit entspricht es nicht gerade unserer Vorstellung eines ehrwürdigen Lebenswerks eines Gelehrten.
Und doch ist es ein opus magnum. Es enthält nämlich zum einen das kondensierte Wissen der Unternehmerfamilienforschung und setzt methodische wie inhaltliche Maßstäbe. Damit ist es das Hauptwerk eines gesamten (zugegebenermaßen noch jungen) Forschungszweigs. Zum anderen enthält es aber auch die „Quintessenz“ der Erfahrung des Autors (S. 189) und ist somit als Lebenswerk von Arist von Schlippe zu verstehen – wenn auch nicht als Spätwerk, da er in der Tat weder alt noch emeritiert, sondern fest und aktiv in Wissenschaft und Praxis verankert ist. Trotzdem hat er sich spätestens mit diesem Buch zum Doyen der Unternehmerfamilienforschung gemacht.
Welches Niveau diese Publikation erreicht hat, zeigt der Vergleich mit anderen Familienunternehmensstudien. In der Regel werden nämlich mehr oder weniger beschreibende Schlüsse aus einigen wenigen Interviews mit Familienunternehmern gezogen. Dabei ist es gleichgültig, ob das Verfahren induktiv oder deduktiv gewählt ist. Es bleibt immer zirkulär. Die Unternehmer sind Ausgangspunkt, Objekt und Ziel. Die empirisch gewonnen Unternehmer-Aussagen werden (häufig eins zu eins und ohne angemessene Berücksichtigung der bewussten oder unbewussten Assoziationen, Denktabus, Verstrickungen etc.) gesammelt, beschrieben, zusammengefasst, evtl. mit einer Modell-Graphik versehen und dann denselben Unternehmern wieder als Erkenntnis angeboten. Solche beschreibenden Erkenntnisse sind meist wenig hilfreich und können sogar gefährlich sein, wenn daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Denn es wird ja erstens nur empfohlen, was sowieso schon vorhanden ist (bringt also nichts Neues) und was zweitens (und viel schlimmer) nur eine Einzelfalllösung darstellt und möglicherweise bei Übertragung auf andere Voraussetzungen und Bedingungen sogar kontraindikativ wirkt.
Ganz anders bei Arist von Schlippe. Er versteht, erklärt und gelangt zu Erkenntnissen auf einer abstrakten, allgemeingültigen und nicht nur fallbeschreibenden Ebene. Dabei verliert er sich jedoch nie in Konstrukten und lebensfernen Theorien, sondern verprobt seine Erkenntnisse immer und unmittelbar an der Realität. Seine vielen Fallbeispiele sind nämlich nicht Ausgangspunkt und Ziel, sondern untermauern das Gesagte. Seine theoretischen Modelle sind nicht wie üblich beschreibende, sondern umfassend erklärende. Dies gelingt ihm, da er zum einen Psychologe ist und die menschliche Verstricktheit mit den Methoden der Psychologie analysieren kann. Großen Erkenntnisgewinn zieht er aber vor allem auch daraus, weil er zweitens dieses Wissen mit der systemtherapeutischen Praxis vereint.
Worum geht es in dem Buch?
Um strukturelle und systembedingte Konfliktursachen, -gründe und -anlässe mit individuellen Protagonisten, wie sie in Unternehmerfamilien vorkommen. Es geht um das Verstehen von Konfliktentstehung, -erhaltung, aber auch um die bewusste (und nicht verdrängte) Vermeidung und den Umgang und das Aushalten von Konflikten.
Dieses sehr gut und flüssig geschriebene Buch ist extrem hilfreich. Für die Forschung, weil es uns zeigt, dass dieses Fach den Kinderschuhen entwachsen ist und in Zukunft andere Maßstäbe gelten. Und für die Praxis, weil es den Betroffenen und Beteiligten endlich echtes methodisches Werkzeug des Verstehens an die Hand gibt, Konflikte zu bearbeiten und nicht nur Checklisten und Rezepte, die Konflikte im besten Falle vorübergehend und oberflächlich befrieden oder (und das nicht selten) auf längere Sicht unterirdisch weiter entzünden und deshalb sogar noch eskalieren, vergleichbar einem Pflaster – das ja auch nicht heilt, sondern verdeckt und unter Umständen die entzündete Wunde darunter weiter schwären lässt.
Arist von Schlippe schafft mit diesem Werk Bewusstheit in Unternehmerfamilien und hilft allen Beteiligten (und dazu zählen nicht nur die Mitglieder der Unternehmerfamilien selbst, sondern auch die angestellten Manager*innen, Berater*innen etc.) zu verstehen und deshalb bewusst zu handeln. Er bewahrt damit vor viel Unglück – bei allen Stakeholdern. Ein opus summum auch in diesem Sinne!
Dr. Rena Haftlmeier-Seiffert